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Wie befreien wir uns vom Hass, Delphine Horvilleur?
Aus Sternstunde Religion vom 05.05.2024.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 58 Minuten 56 Sekunden.
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Krieg im Nahen Osten «Hass ist etwas Natürliches» – wie kommen wir zurück zum Dialog?

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel bricht sich der Hass weltweit Bahn. Das beobachtet auch eine der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs, die Rabbinerin Delphine Horvilleur, mit grosser Sorge. Wie finden wir zueinander und wie lässt sich miteinander reden angesichts von unfassbarem menschlichem Leid?

Delphine Horvilleur

Delphine Horvilleur

Autorin und Rabbinerin

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Delphine Horvilleur wurde 1974 geboren. Sie ist Autorin und Rabbinerin der jüdisch-liberalen Bewegung Frankreichs. Zudem ist sie als Chefredakteurin der Zeitschrift Tenou'a tätig.

SRF: Sie sagen, in Zeiten des Krieges zu sprechen, sei eine beinahe unmögliche Mission. Was macht die Verständigung derzeit so schwierig?

Delphine Horvilleur: Kriegsexperten wissen, dass in Kriegen zuallererst die Brücken bombardiert werden. Man zielt auf Menschen ab, die einen Dialog hätten ermöglichen können. Ich habe gespürt, dass nach dem 7. Oktober nicht nur unser Bewusstsein und unsere Körper, sondern auch unsere Worte versehrt worden sind.

Wir müssen heute, vielleicht mehr denn je, aus der Poesie schöpfen.

Mit Bestürzen stellte ich fest, dass auch mir die Worte fehlten, um zu meiner Gemeinde oder mit meinen Kindern zu sprechen. An mich gerichtete Worte nahm ich sehr schlecht auf, weil oft die falschen Worte benutzt oder ein «ja, aber» angefügt wurde. Ich wollte den schwierigen Weg gehen und dem «Aber» ein «Und» entgegenstellen und mich für den Schmerz der einen und der anderen öffnen.

Wie macht man das?

Wir müssen heute, vielleicht mehr denn je, aus der Poesie schöpfen. Geschrieben von Menschen, die glauben, dass Worte die Welt verändern können. Ich selbst bin davon überzeugt, dass man mit Worten Welten bauen, aber auch vernichten kann. Wenn man der Sprache erlaubt, die Wirklichkeit zu vergrössern – was Dichter besser als alle anderen können – gibt es eine Möglichkeit, noch an die Zukunft zu glauben und ein Lichtblick in der Dunkelheit zu sein.

Es braucht gerade jetzt die Fähigkeit, echtes Mitgefühl zu entwickeln.

Aber das ist schwierig: Soziale Netzwerke reduzieren uns auf eine Welt, in der wir einzig mit Menschen im Kontakt sind, die dasselbe denken, sehen, wählen und lesen. Dabei bräuchte es gerade jetzt die Fähigkeit, sich zu bewegen und echtes Mitgefühl zu entwickeln. Diese empathische Verschiebung fehlt heute.

Wie wehren Sie sich selbst gegen diesen einschränkenden, verdunkelnden Hass?

Ich weiss nicht, ob ich es schaffe. Ich hoffe, ich finde einen Weg, mich davor zu schützen. Zeitweise droht mich dieser Hass zu entstellen. Ich habe seit dem 7. Oktober viele Freunde verloren. Menschen, mit denen ich eine gelassene und offene Unterhaltung führen wollte. Auch wenn dieses Gespräch schwierig, gar unmöglich geworden ist, gebe ich nicht auf.

Hass ist etwas ganz Natürliches. Jeder Mensch empfindet ihn irgendwann in seinem Leben.

Ich habe beschlossen, dass mein Haus, meine Synagoge, mein Familientisch offen bleiben und lud jeden Freitagabend zu Schabbat andere Leute ein. Mein Grundsatz lautet, dass ich mit jedem spreche, unter der Bedingung, dass der andere mein Existenzrecht nicht mit Füssen tritt. Natürlich ist das anstrengend.

Gibt es Hass, der uns klarer sehen lässt und zu Gerechtigkeit zwingt?

Hass ist etwas ganz Natürliches. Jeder Mensch empfindet ihn irgendwann in seinem Leben. Gleichzeitig muss man sich davor hüten, vom Hass in eine Vereinfachung der Debatte getrieben zu werden und eine einfache Lösung herbeizaubern zu können.

Hass empfinden sollte man für Narrative, die uns den Nahen Osten als ein Fussballspiel erzählen.

Es gibt eine ärgerliche Tendenz, diesen Konflikt Schwarz-Weiss zu sehen, als eine Geschichte zwischen den Guten und den Bösen, den Starken und den Schwachen, den Mächtigen und Verletzlichen.

Hass empfinden sollte man für Narrative, die uns den Nahen Osten als ein Fussballspiel erzählen, bei dem wir tausende Kilometer entfernt auf der Tribüne sitzen und in unserer Wut auf die eine oder andere Mannschaft Popcorn werfen.

Das Gespräch ist ein Auszug aus der Sternstunde Religion und wurde von Olivia Röllin geführt.

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Krieg im Nahen Osten

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Die Konflikte in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen halten an. Hier finden Sie alle unsere Inhalte zum Krieg im Nahen Osten.

SRF 1, Sternstunde Religion, 5.5.2024, 11:00 Uhr.;

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